|  | Neulich am Bahnsteig im Bahnhof Jungfernstieg. Die U1 fährt ein, eine 
                    Menschentraube drückt sich in die Wagons, verteilt sich 
                    auf die Plastikbänke, verkriecht sich hinter Zeitungen. 
                    Über den Bänken hängen Monitore, über 
                    die Monitore flimmern bunte Bilder. Nachrichten, Comics, Werbung. 
                    Seit Anfang des Monats aber auch Kunst.
 Zunächst aber kommt: das Wetter. Danach die neueste Modekollektion, 
                    dann ein Comicstreifen, anschließend Neues vom Sport 
                    und Angebote eines Sonnenstudios. Zwei Handpuppen rücken 
                    ins Bild, die eine greift der anderen in den Rachen, zieht 
                    eine schlangenähnliche Pappzunge heraus, in die sie eine 
                    Glühbirne einsetzt. Die Lettern "Wuul" flimmern 
                    über den Schirm, Schnitt.
 
 Welches Produkt gehörte wohl zu dem Handpuppen-Spot? 
                    Wirbt hier ein neuer Stromanbieter? Ein Kindertheater? Plötzlich 
                    fällt bei dem informierten Betrachter der Groschen: Das 
                    muss die Kunst gewesen sein! Ob das jemand bemerkt hat? Der 
                    Mann gegenüber nicht, der hat die Augen geschlossen. 
                    Er genießt einen Traum - ohne Werbeblöcke, das 
                    hoffen wir. Die Dame eine Bank weiter gesteht, dass sie die 
                    Videokunst in der Bahn noch gar nicht bemerkt habe: "Man 
                    sieht schon viel dran vorbei", sagt sie. Zum Trost fügt 
                    sie hinzu: "Aber ich glaube schon, dass es Leute gibt, 
                    denen so etwas auffällt."
 
 Reaktionen auf ihr Kunstprojekt seien bisher noch nicht eingetroffen. 
                    "Leider", seufzt Romeo Grünfelder; er gehört 
                    zur Gruppe "Locomotion", die sich aus Studenten 
                    und Ehemaligen der Hochschule für bildende Kunst zusammensetzt. 
                    Die macht für ihren Misserfolg die Sendefrequenzen verantwortlich. 
                    Drei Spots pro halbe Stunde laufen jetzt, man verhandelt über 
                    das Doppelte.
 
 In der Zwischenzeit erläutert Herr Grünfelder das 
                    Selbstverständnis der Projektgruppe: Die Beiträge, 
                    die bis zu dreißig Sekunden lang sind, seien als "eigenständige 
                    Aktion" aus einem "studentischen Verlangen" 
                    heraus entstanden, denn an der Hochschule gebe es kaum Möglichkeiten, 
                    mit digitalen Medien zu arbeiten. Thematisch gehe es um "Unschärfen 
                    zwischen und in Ort und Bewegung", darüber hinaus 
                    verfolge man eine "Bewegungsstrategie". Man befinde 
                    sich mit der digitalen Kunst in der Ortlosigkeit, denn wenn 
                    das Bild ankomme, sei es schon nicht mehr da. Aha.
 
 "Das ist die weltweit erste Ausstellung dieser Art", 
                    steht auf der Internetseite, die Romeo Grünfelder und 
                    seine Kollegen eingerichtet haben. Nun ist die Idee, Kunst 
                    in der U-Bahn zu machen, eigentlich nichts Neues: Bei der 
                    Jazzwoche spielten im vergangenen November Bands in der U3, 
                    in Berlin wurden Filmprojektoren in die Tunnel gebaut, und 
                    auf den Monitoren in Münchner U-Bahnstationen lief vor 
                    kurzem die zweite Kurzfilmstaffel der dortigen Akademie der 
                    Künste. Das Neue sei aber, dass die Filme in den Wagons 
                    laufen, wendet Grünfelder ein: Das sei eine ganz andere 
                    Situation.
 
 In der nächsten Staffel könnten die Filmkünstler 
                    ja die Beobachtung eines Bahnnutzers beherzigen: "Kinder 
                    achten sehr auf die Monitore." Für sie ließe 
                    sich bestimmt schöne ortlose Digitalkunst schöpfen: 
                    diesmal vielleicht mit ästhetischen Anleihen bei den 
                    Teletubbies.
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